Graz hat sich als erstes Jugendamt in Österreich entschlossen, das Konzept der Sozialraumorientierung (SRO) umzusetzen. Der „Grazer Weg“ der Sozialraumorientierung versteht sich als Weiterentwicklung des Qualitätskatalogs des Jugendamtes aus dem Jahr 2000 und ist seit 2010 in einer, bereits einmal verlängerten, Pilotphase. Ende 2014 ist geplant, das Modell der SRO in Graz in den Regelbetrieb zu übernehmen. Das Land Steiermark stellt darüber hinaus Überlegungen an, den Jugendwohlfahrtsbereich in der Steiermark zukünftig nach dem Konzept der Sozialraumorientierung neu zu organisieren und auszurichten und dieses Modell in ausgewählten Regionen in der Steiermark einzuführen. Wir Grüne sind der Ansicht, dass weder für die Übernahme des Konzeptes der SRO in Graz in den Regelbetrieb noch für die Ausweitung auf andere Bezirke in der Steiermark bisher die notwendigen Grundlagen für eine solche Entscheidung geschaffen wurden.
In den letzten Jahren ist die Kritik am Modell der Grazer Sozialraumorientierung sehr deutlich geworden. Die mangelnde Bereitschaft des Grazer Jugendamtes, dieser Kritik Raum zu geben, hat dazu geführt, dass die kritische Diskussion zunehmend öffentlich geführt wird. Der Vorwurf an das Grazer Jugendamt lautet, dass dieses „nach einem neoliberalen Einsparungsmodell arbeite, das die Schwächsten zurücklasse“, so u.a. formuliert im Falter vom 23. April 2014. Offiziell wird zwar immer betont, dass es nicht um Einsparungen ginge, allerdings führt der Stadtrechnungshof in seinem Prüfbericht an, dass das Konzept der Sozialraumorientierung darauf abzielt…„Anreize für die Verantwortlichen zu schaffen, tendenziell kostengünstigere Unterstützungsmaßnahmen zu verordnen.“(siehe Falter)
Natürlich muss es in allen Bereichen darum gehen, mit den vorhandenen finanziellen Mitteln verantwortungsvoll umzugehen. Eine von vorn herein definierte Deckelung der Mittel, die den Trägerorganisationen für Unterstützung und Hilfestellungen in den Familien zur Verfügung stehen, lässt jedoch die Gefahr entstehen, dass bei den Entscheidungen für Maßnahmen nicht das Kindeswohl im Mittelpunkt steht sondern der vorgegebene Budgetrahmen. Die Frage, ob jene Leistungen (noch) zur Verfügung gestellt werden, die die Kinder jeweils brauchen, ist entscheidend und hier gilt es, sehr genau hinzusehen. Schließlich haben Hilfestellungen und Unterstützungen für Familien immer auch präventiven Charakter und können dazu beitragen, dramatische und letztendlich auch sehr kostenintensive Maßnahmen bzw. Entwicklungen, wie die Fremdunterbringung von Kindern, Schulabbrüche, Suchtgefährdung etc. zu verhindern.
Ein weiterer Punkt, der in diesem Zusammenhang genauer zu betrachten ist, ist jener der Zielvereinbarungen mit den Familien. Aus Sicht von ExpertInnen im Bereich der Jugendwohlfahrt bedarf es bei Familien, die mit mehreren Probleme gleichzeitig konfrontiert sind, zuerst einer intensiven Beziehungsarbeit durch die SozialarbeiterInnen, bevor eine Zielvereinbarung, die von den Familien auch tatsächlich so gewollt und getragen wird, möglich ist.
Für diesen Beziehungsaufbau braucht es aber nicht nur Zeit, die derzeit nicht ausreichend vorhanden ist, sondern auch Verlässlichkeit. Aber auch hier gibt es Probleme, die durch das Konzept bzw. dessen Umsetzung hervorgerufen werden. Die SozialarbeiterInnen, die in den Familien tätig sind, können ihren KlientInnen nämlich keine verbindlichen Zusagen bezüglich Hilfeleistungen machen, da alle Entscheidungen im Sozialraumteam fallen. Der/die SozialarbeiterIn ist bei diesen Entscheidungen nur ein kleines Rädchen, in den Sozialraumteams wirken 15-20 andere MitarbeiterInnen der Trägerorganisationen bzw. des Jugendamtes an der Entscheidung mit. Hier stellt sich auch die Frage nach der Effizienz des Modells der SRO. Eine Berechnung, welche Kosten verursacht werden, wenn 15-20 Personen in gemeinsamen Sitzungen über jede Hilfsmaßnahme zu entscheiden haben, sollte angestellt werden. Möglicherweise findet hier eine unverhältnismäßige Verschiebung der Ressourcen von den Kindern weg in Richtung Bürokratie statt.
Die Schwerpunktträger übernehmen als private Dienstleister die Rolle des Jugendamtes, was einer Teilprivatisierung gleichkommt. Ein Wahlrecht für die Betroffenen, z.B. von einem anderen Dienstleister betreut zu werden, gibt es nicht (im Unterschied zu Deutschland). Die MitarbeiterInnen haben ebenfalls weniger Wahl- und Entscheidungsrechte, was die Beziehung zu den KlientInnen oft belastet (wenn z.B. eine Mitarbeiterin sieht, was in einer Familie gebraucht wird, das aber im Sozialraumteam nicht durchbringt, ist auch die betreute Familie enttäuscht). Die fehlenden Entscheidungsmöglichkeiten für die einzelnen SozialarbeiterInnen wurde von Yvonne Seidler von der NGO Hazissa (Falter von 23. April) im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen in einer Jugend WG folgend zitiert: „Selbst die WG-Leiter hatten das Gefühl, keine Entscheidungsmacht zu haben, weil letztlich von den Sozialraumleitern entschieden wurde, wen sie aufnehmen mussten.“ Dies habe die Gewaltdynamik unter den Jugendlichen verschärft.
In einer Zeit, wo sich bedingt durch die anhaltende Wirtschaftskrise die gesellschaftlichen Rahmendbedingungen vor allem für Familien und somit für Kinder derart verschärfen, muss diese Verschiebung von Hilfestellungen hinterfragt werden können. Die Grundsorge möchte ich so formulieren, dass zu wenig Zeit FÜR und MIT den KlientInnen bleibt, stattdessen wird ÜBER die KlientInnen gesprochen – es wird FÜR sie gearbeitet (mit gesteigertem bürokratischem Aufwand).
Im Unterschied zu Deutschland hat sich in Graz durch die Einführung der Sozialraumorientierung auch eine Einengung bei den AnbieterInnen der einzelnen Hilfestellungen und Maßnahmen ergeben. So werden beispielsweise Angebote, die früher mit speziellen Zielgruppen arbeiteten und vom Jugendamt auch beauftragt wurden, nach der Einführung der Sozialraumorientierung nicht mehr in Anspruch genommen. Bestimmte Maßnahmen und Leistungen wurden insgesamt stark reduziert. So beträgt der Rückgang beispielsweise bei der Frühförderung 46% und bei der Unterstützung der Erziehung (von 2009 auf 2011) 50%. Die Familienhilfe, ein Angebot, das bisher von der Caritas erbracht wurde und aufgrund seiner Niedrigschwelligkeit für Familien eine wichtige Unterstützung darstellt, wurde offensichtlich gänzlich gestrichen.
Die vom Jugendamt beauftragte Evaluierung der Sozialraumorientierung, die von Vincent Richardt durchgeführt wurde, basierte, wie vom Autor selbst bestätigt, fast ausschließlich auf dem Studium von Akten. Dass der Evaluator zur Aussage gelangt, dass die Selbständigkeit und Zufriedenheit der betreuten Familien in geradezu spektakulärem Ausmaß gestiegen ist, ohne auch nur mit einer einzigen gesprochen zu haben, gibt Anlass zu Zweifeln hinsichtlich der Validität der Evaluierung. Auch die Tatsache, dass nur 12 MitarbeiterInnen für die Evaluierung befragt wurden und diese nahezu ausschließlich der Leitungsebene angehören, ist aus unserer Sicht ebenfalls ein Schwachpunkt dieser Evaluierung. Nicht umsonst wurde diese Evaluierung von ExpertInnen als Nullmeldung in Sachen Transparenz, Reflexion, Fehlerkultur, Fachdiskussion und Empirie bewertet, somit auch in Sachen Demokratie und Partizipation. Solange aber Empirie fehlt und Reflexivität nicht erwünscht ist, muss hinterfragt werden können, ob die Grazer Sozialraumorientierung das passgenaue System für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe der Stadt Graz über das Jahr 2014 hinaus, aber auch für andere Bezirke in der Steiermark darstellt.
Bevor es zu einer dauerhaften Implementierung des Konzeptes der Sozialraumorientierung in Graz sowie zu einer Einführung in ausgewählten Modellregionen in der Steiermark kommt, sollte aus unserer Sicht eine fundierte Entscheidungsgrundlage geschaffen werden, in dem die Erfahrungen mit dem Modell der Sozialraumorientierung in Graz aus verschiedenen Blickwinkeln einbezogen und einer kritischen Prüfung unterzogen werden.
Deshalb stelle ich folgenden Dringlichen Antrag
Der Gemeinderat der Stadt Graz tritt am Petitionsweg an den zuständigen Landesrat LH-Stv. Siegfried Schrittwieser mit dem Ersuchen heran, eine kritische Prüfung der Umsetzung des Modells der Sozialraumorientierung in Graz unter Einbeziehung des Jugendamtes, von Trägerorganisationen und MitarbeiterInnen des Jugendamtes Graz sowie unter Hinzuziehung der Kinder- und Jugendanwaltschaft und anderer externer ExpertInnen vorzunehmen. Die Landtagsfraktionen sollten dabei die Möglichkeit erhalten, Nennungen für eine ExpertInnenrunde abzugeben.
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