Sehr geehrter Herr Bürgermeister!
Im Rahmen der Abschlussveranstaltung des Binnenmarktforums Ende März in Riga forderte die für Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und Klein- und Mittelbetriebe zuständige EU-Kommissarin Bieńkowska den weiteren Abbau von Marktzugangshürden für Unternehmensgründer sowie Klein- und Mittelbetriebe innerhalb der Europäischen Union und erhöht damit den Reformdruck auf die EU-Mitgliedstaaten. Im Zuge zahlreicher Konferenzen während der letzten Monate hat die EU-Kommission mit Nachdruck darum ersucht, neue Wege zur Ausschöpfung des Potenzials des EU-Binnenmarktes zu suchen. Dabei wurden die EU-Länder aufgefordert, ihre Berufszugangsvorschriften auf den Prüfstand zu stellen und gegebenenfalls zu reformieren. Die EU-Kommission hat bereits in der Vergangenheit im Rahmen ihrer Länderempfehlungen demonstriert, dass eines ihrer Lieblingsthemen der angeblich mangelnde Wettbewerb im Dienstleistungssektor ist und kritisiert dabei, dass in vielen Handwerksbranchen nach wie vor ein Meisterbrief oder eine gleichwertige Qualifikation erforderlich ist, um einen Betrieb zu führen.
In der Steiermark haben wir in der Sparte Gewerbe und Handwerk 9.561 Arbeitgeberbetriebe mit insgesamt 110.069 Beschäftigten - davon 31,1% Frauen - 2.621 Lehrbetriebe und 7.378 Lehrlinge. Die Zahl an abgeschlossenen Meisterprüfungen ist von 156 im Jahr 2013 auf 201 gestiegen, die der abgeschlossenen Befähigungsprüfungen im gleichen Zeitraum von 131 auf 136. 2013 gab es 334 Prüfungsantritte zur Unternehmerprüfung, wobei auch hier ein Anstieg auf 353 für 2014 zu verzeichnen ist. Die Sparte Gewerbe und Handwerk befindet sich glücklicherweise im Aufwind. Einer der Gründe ist die hervorragende Qualität der Ausbildungsplätze und unser duales Ausbildungssystem - Betrieb und Berufsschule. Jene Gewerbebetriebe, die einer Zulassung unterliegen, garantieren die duale Ausbildung. Diese qualifizierten Unternehmen sind verlässliche Partner am heimischen Wirtschaftsstandort und sichern die Weitergabe wertvollen Wissens im Rahmen der Lehrlingsausbildung.
Eine sehr aktuelle österreichweite Umfrage hat ergeben, dass 95 % der Konsumenten Meisterbetrieben eine hohe Qualität bei der Erbringung ihrer Leistungen bescheinigen sowie dass 93 % der Kunden sich sicher fühlen, wenn sie einen geprüften Handwerker mit Meisterprüfung beauftragen. 68 % der Bevölkerung lehnen es ab, die Meisterprüfung abzuschaffen und jedes Gewerbe für jeden Interessenten ohne Nachweis einer Befähigung zuzulassen. Drei Viertel der Österreicher sind davon überzeugt, dass die Meisterprüfung als Berufsqualifikation ein wichtiger Schutz für Konsumenten ist. Die Meisterprüfung als Berufsqualifikation ist ein wichtiger Nachweis für hohe Qualität der Produkte und der gewerblichen Dienstleistungen und garantiert eine gute Ausbildung unserer Jugend und sichert die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft. Die Meister- und Familienbetriebe zeigen gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten große Krisenfestigkeit und sind damit ein erfolgreiches Gegenmodell zu globalisierten Konzernstrukturen. Aber nicht nur die Meisterprüfung, sondern auch Berufspraxis über einen längeren Zeitraum und ein individueller Befähigungsnachweis führen zu erfolgreichem Unternehmertum. Diese Ausbildungsstandards und die Förderung von Begabungen und Talenten sind Rahmenbedingungen für einen exzellenten Fachkräfte-Nachwuchs und führen zu einer erfolgreichen Zukunft mit einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft.
Nun plant die EU eine Liberalisierung für den Zugang zum Handwerk. Dazu gibt es in Deutschland bereits besorgniserregende Erfahrungswerte. 2004 hat Deutschland für mehr als die Hälfte der Gewerbe die Meisterprüfung abgeschafft, was zu einem enormen Anstieg von Betriebsgründungen geführt hat. In weiterer Folge dieser Entwicklung konnte ein deutlich spürbarer Abfall der Qualität der einzelnen Jung-Betriebe festgestellt werden. Ein Unterbietungswettbewerb wurde in Gang gesetzt, und die Anzahl von „Billig-Betrieben“ nahm rasant zu und führte letztlich zu einem Vertrauensverlust in die Handwerkszunft. Alle zulassungsfreien Berufe in Deutschland zusammengenommen bilden aktuell nur noch fünf Prozent der Lehrlinge aus. In den zulassungsfreien Handwerken sind vor allem Ein-Mann-Unternehmen entstanden, in denen weder beschäftigt noch ausgebildet wird. In nicht wenigen Fällen ist die selbstständige Existenz in diesen Bereichen eine Selbstausbeutung, die der Unternehmer betreibt, um sich über Wasser halten zu können. Der Meistertitel befähigt fachlich und betriebswirtschaftlich zur erfolgreichen Betriebsgründung und -übernahme.
Eine Nachfrage bei der Schuldnerberatung hat ergeben, dass es auch bei uns bereits in manchen Branchen sehr viele Ein-Personen-Unternehmen gibt, die kurz vor dem Konkurs stehen, da diese meist nicht über das nötige unternehmerische Wissen verfügen um ihre Kennzahlen auszuwerten. Eine drohende Konsequenz bei einer weiteren Öffnung des Marktes sind unzureichend qualifizierte Ausbildungsplätze für unsere Jugend, denn wer selbst nicht ausreichend ausgebildet ist, kann auch kein Wissen weitergeben. Das Erfordernis von meisterlichen Kenntnissen in vielen Handwerksberufen ist kein Gründungshemmnis, sondern eine äußerst erfolgreiche Unternehmerschulung, die selbstständigen Existenzen zum Erfolg und zur Nachhaltigkeit verhilft.
Deshalb sollten wir uns als Stadt Graz zur Meisterprüfung als Vorgabe für einen fairen Wettbewerb und zum Schutz der Konsumenten bekennen. Unsere Ausbildungsstandards müssen auf jeden Fall erhalten bleiben und aufgewertet werden. Gewerbe und Handwerk sollen sich auch zukünftig durch hohe Qualifikation auszeichnen. Wir setzen uns damit für eine hohe Überlebensfähigkeit der Unternehmen ein und sichern unserem Handwerks-Nachwuchs eine hochwertige und nachhaltige Ausbildung für eine erfolgreiche Zukunft.
Daher stelle ich im Namen des Freiheitlichen Gemeinderatsklubs nachfolgenden
Dringlichen Antrag gem. § 18 der GO f. d. Gemeinderat der Landeshauptstadt Graz
Der Gemeinderat wolle beschließen:
Die Stadt Graz erkennt vor dem Hintergrund hoher Arbeitslosigkeit, dass nur vorausschauende Strategien langfristig zu einer nachhaltigen Entschärfung der heimischen Arbeitsmarktsituation beitragen werden, sie bekennt sich zur Aufrechterhaltung der Qualität ihrer Handwerksbetriebe und lehnt aus diesem Grund eine weitere Liberalisierung von Berufszugangsvorschriften, wie sie von der EU-Kommission gefordert wird, entschieden ab. Diese Erklärung ist den zuständigen Stellen des Bundes auf geeignete Weise zur Kenntnis zu bringen.
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